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Neutronen zeichnen ein neues Bild von Wärmeleitfähigkeit in komplexen Materialien

8.09.2017

  • Von Forschern des Institut Laue-Langevin (ILL) und des CNRS durchgeführte Neutronen-Experimente ermöglichen eine direkte quantitative Messung der Phononen-Lebensdauer in Clathraten , woraus ein neues Bild der Wärmeleitfähigkeit in komplexen Materialien entsteht
  • Die Studie unterstreicht die Bedeutung von Neutronenstreutechniken, um die Lebensdauer von Phononen zu erfassen und erfolgreich zu messen
  • Das Engineering der Wärme-Leitfähigkeit in Halbleiter-Materialien ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Nano- und Mikrotechnologie. Geringe Wärmeleitfähigkeit ist wichtig für Materialien, die z. B. in Computern und Smartphones verwendet werden. Die so erhöhte Wärmedämmung und die daraus resultierende verringerte Wärmeübertragung schützen besser vor einem Überhitzen der Produkte.

Einige Repräsentanten aus der Familie der Clathrate - komplexen chemischen Einschlussverbindungen mit einer käfigartigen Kristallstruktur in deren Inneren sogenannte Gastatome eingeschlossen sind -  sind besonders interessant in diesem Kontext, da sie in einer Reihe wichtiger technologischer Anwendungen vorkommen. Ihre thermoelektrischen Eigenschaften machen Clathrate zu effektiven Materialien für die Energierückgewinnung durch Umwandlung von überschüssiger Abwärme in Elektrizität. Bis jetzt ist wenig bekannt über den genauen Mechanismus, der zu niedriger Wärmeleitung in komplexen Strukturen wie Einschlussverbindungen führt.

Wärmeenergie wird hauptsächlich von atomaren Vibrationen transportiert, die Phononen genannt werden. Diese Quasiteilchen bewegen sich mit Schallgeschwindigkeit fort. Die Wärmeausbreitung und Wärmeleitfähigkeit kann direkt mit der Strecke in Verbindung gebracht werden, die ein Phonon in einem Material zurücklegt, bevor es mit Störstellen oder anderen Phononen kollidiert. Die entsprechende charakteristische Zeitdauer wird als Lebenszeit eines Phonons bezeichnet. Die Eigenschaften individueller Phononen zu verstehen, ist deshalb grundlegend für Anwendungen wie zum Beispiel die Energierückgewinnung aus Abwärme durch thermoelektrische Umwandlung. Das Verkürzen der Phononen-Lebenszeit führt zu einer niedrigen Wärmeleitung. Diese Strategie wird im Rahmen des „Phonon Engineerings“ in thermoelektrischer Materialien intensiv untersucht.

Die Phononen-Lebensdauer ist einer der Schlüsselparameter für das Bestimmen der Wärmeleitfähigkeit, aber diese zu erfassen und zu messen ist extrem schwierig – sowohl experimentell als auch theoretisch. Die experimentelle Herausforderung liegt in den begrenzten Fähigkeiten der Instrumente; die besten derzeit zur Verfügung stehenden Instrumente liefern dafür eine zu geringe Auflösung. Bis heute konnte experimentell kein Nachweis der Phononen-Lebensdauer in Einschlussverbindungen mit inelastischen Neutronen- oder Röntgenstreu-Techniken erbracht werden. Gleichwohl hat es in der jüngsten Zeit erhebliche Fortschritte mit Computer-gestützten Berechnungsmethoden für Halbleiter mit einfachen Strukturen gegeben. Um theoretische Vorhersagen zu validieren sind experimentelle Messungen der Lebenszeit einzelner Phononen-Zustände notwendig.

Eine Multi-Partner-Studie, die kürzlich in Nature Communications veröffentlicht wurde, untersucht die Herausforderungen bei der Messung der Phononen-Lebenszeit mit inelastischer Neutronenstreuung (INS) und Neutronresonanz Spin-Echo (NRSE)-Experimenten, die im Institut Laue Langevin (ILL) in Grenoble und dem Laboratoire Léon Brillouin (LLB) Saclay in Frankreich durchgeführt wurden.

Während die „glasartige“ Wärmeleitung von Einschlussverbindung wie Ba7.81Ge40.67Au5.33 häufig mit einer kurzen Phononen-Lebensdauer in Verbindung gebracht wird, zeigten die Messergebnisse dieser Studie, für die ein hochwertiger Einkristall verwendet wurde, erstmals eine sehr lange Phononen-Lebensdauer. Die Studie macht auch eine drastische Abnahme der Anzahl der für den Wärmetransport verantwortlichen Phononen deutlich, welche aus der komplexen Struktur dieser Materialien resultiert. Diese Ergebnisse erlauben eine einfache und allgemeine Erklärung der niedrigen Wärmeleitfähigkeit komplexer Materialien.

Für diese Studie arbeitete das ILL mit einer Reihe weiterer Forschungsinstitute und Universitäten zusammen: der Universität Grenoble Alpes, dem Institute für Licht und Materie an der Universität von Lyon, dem nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), der französischen Kommission für alternative Energien und Atomenergie (CEA), dem Institut für Werkstoffwissenschaft und Werkstofftechnologie sowie dem Institut für Festkörperphysik an der TU Wien, dem Max-Planck- Institute für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden, dem Physikalischen Institut der Goethe-Universität in Frankfurt und dem Institut für Physik an der Slowakischen Akademie der Wissenschaften sowie dem LLB.

„Wir haben erstmals die Lebensdauer akustischer Phononen in dieser Einschlussverbindung gemessen, und zwar mithilfe von Neutronen. Für die Experimente wurden hochauflösende INS-Technologien verwendet: Neben dem Drei-Achsen-Spektrometer (TAS) 2T am LLB kamen die Flugzeitmethode (TOF) am IN5 Spektrometer sowie das Drei-Achsen-Spektrometer IN22 mit der NRSE-Option am ILL zum Einsatz. Die Instrumente ergänzten sich für diese Studie. Die TOF-Spektrometer-Messungen zeigen einen großen Ausschnitt des reziproken Raums und erlauben damit präzise auszuwählen, wo die Phononen-Lebensdauer mithilfe des TAS gemessen werden soll. Der Einsatz des NRSE auf dem TAS als Messmethode erfordert einen großen Einkristall. ”, erläutert Dr. Jacques Ollivier, ILL-Wissenschaftler am IN5-Spektrometer und Mitverfasser der Studie.

„Die Studie erfolgte im Rahmen einer großangelegten Zusammenarbeit innerhalb des europäischen C-MAC-Netzwerkes in 24 Laboratorien in mehreren europäischen Ländern. Diese Zusammenarbeit war entscheidend für den Forschungserfolg. Jede Einrichtung steuerte ihr spezifisches Know-how bei: von der Vorbereitung und Charakterisierung der Probe bis zur Durchführung der Neutronen-Experimente und dem Ausführen von Simulationen auf atomarer Ebene. Als diese individuellen Fähigkeiten zusammengebracht wurden, waren wir imstande, eine sehr erfolgreiche Studie durchzuführen”, so Marc de Boissieu, Senior Scientist am CNRS und Koordinator dieser Studie.

Die im Rahmen dieser fruchtbaren Zusammenarbeit erzielten Ergebnisse stellen einen sehr wichtigen experimentellen Input für neue theoretische Entwicklungen dar. Hiermit wurde erstmals eine direkte Messung der Phononen-Lebensdauer in einem Clathrate vorgenommen. Das Ergebnis ist ein neues Bild der Wärmeleitung innerhalb von Halbleiter-Materialien. Damit wird die Qualität moderner Nano- und Mikrotechnologien zukünftig verbessert werden können.

Re.: Direct measurement of individual phonon lifetimes in the clathrate compound Ba7.81Ge40.67Au5.33, Lory et al., Nature Communications, 8: 491, 2017, DOI: 10.1038/s41467-017-00584-7

Autoren: Pierre-François Lory1,2, Stéphane Pailhès3, Valentina M. Giordano3, Holger Euchner4, Hong Duong Nguyen4, Reiner Ramlau5, Horst Borrmann5, Marcus Schmidt5, Michael Baitinger5, Céline Allio6 , Matthias Ikeda7 , Petr Tomeš7, Marek Mihalkovič8 , Mark Robert Johnson1, Helmut Schober1,9 , Yvan Sidis10 , Frédéric Bourdarot11 , Louis Pierre Regnault11, Jacques Ollivier1, Silke Paschen7, Yuri Grin5 and Marc de Boissieu2   1 - Institut Laue-Langevin2 - Univ. Grenoble Alpes, CNRS, Grenoble-INP, SIMaP3 - Univ Lyon, University Claude Bernard Lyon 1, CNRS, Institute of Light and Matter4 - Institute of Materials Science and Technology, TU Wien5 - Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe6 - Physikalisches Institut, Goethe-Universität7 - Institute of Solid State Physics, TU Wien8 - Institute of Physics, Slovak Academy of Sciences9 - Univ. Grenoble Alpes, UFR de Physique10 - Laboratoire Léon Brillouin, CNRS, CEA, UMR-1211 - Univ. Grenoble Alpes, CEA, INAC   Pressekontakt in Deutschland: Arno Laxy +49 89 15 92 96 76, ill@sympra.de   Über das Institut Laue-Langevin (ILL) Das Institut Laue-Langevin (ILL) ist ein internationales Forschungszentrum im französischen Grenoble. Seit den ersten Experimenten im Jahr 1972 ist es führend auf dem Gebiet der Neutronenforschung und -technologie. Das ILL betreibt eine der stärksten Neutronenquellen der Welt, von der Neutronenstrahlen zu 40 hochkomplexen Instrumenten geleitet werden, die ständig modernisiert und verbessert werden. Jährlich besuchen 1.200 Wissenschaftler aus mehr als 30 Ländern das ILL, um Forschungsarbeiten auf den Gebieten Physik der kondensierten Materie, (grüne) Chemie, Biologie, Kern- und Teilchenphysik sowie Materialwissenschaft durchzuführen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien sind Träger und Hauptgeldgeber des ILL.